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Die Wut aus dem Golf
oder: als Hurricane Bret uns besuchte

Montag, 16. August 1999: Unter den Kollegen machen sich für uns seltsame Witze breit: Ob das für Freitag geplante Treffen mit dem Kanzler der Universität, der aus Austin anreisen will, wohl wieder 'mal ins Wasser fällt - haha. Schon im letzten Jahr scheiterte der hohe Besuch an einem tropischen Sturm. Und der Wetterbericht kann die Möglichkeit eines Hurricanes nicht ausschliessen. Immerhin: Es ist Mitte August, Hauptsaison für windige Überraschungen aus dem Golf von Mexico. Nein, wir sind gar nicht so heiß darauf, solche Erfahrungen zu machen. Zu schön zeigte sich uns Texas bisher.

Dienstag, 17. August 1999: Im Golf von Campeche, im südwestlichen Teil des Golfs von Mexico, vertieft sich eine "tropical depression" zu einem tropischen Sturm. Für uns ist das noch weit entfernt, eher Mitleid mit den armen Mexikanern, denen das Naß nur so auf den Kopf pladdert.

Mittwoch, 18. August 1999: Im Golf von Campeche tobt es, und langsam setzt sich der tropische Sturm "Bret" in Bewegung. Alle Voraussagen sind sich einig: zielsicher westnordwest, wird er in 1-2 Tagen auf der Küste Mexikos aufprallen und sich dort austoben. Beruhigend für uns, dennoch sind wir wachsam geworden. Jeden Tag verfolgen wir nun die Wetternachrichten auf dem "Weather Channel".

Freitag, 20. August 1999: Nein, Bret hat nicht Mexiko besucht. Mehr und mehr dreht er nach Norden ab, läuft auf die Texanische Küste zu. Dabei verstärkt er sich zunehmend. Am Freitag Morgen erreicht er Hurricane-Stärke, schon am Nachmittag ist er zu einem Hurricane der Stufe 2 angeschwollen. Bewohner im Süden Texas', an der Grenze zu Mexiko und um Brownsville herum, werden zur Evakuierung aufgerufen. Zumindest aber sind Hurricane-Vorkehrungen zu treffen...

Samstag, 21. August 1999: Immer weiter dreht Bret nach Norden ab. Inzwischen ist er zu einem Hurricane der Stufe 4 angeschwollen, und weiter nährt das warme Wasser des Golfs die Wut des Sturmes. Jetzt wird langsam klar: Auch Corpus Christi könnte im Ziel des Sturmes liegen. Besonders beunruhigend: Auch wenn Bret südlich von Corpus auf's Land trifft, sind wir noch nicht aus dem schlimmsten: Denn dann liegen wir im nordöstlichen Quadranten des Sturmes,dort, wo der Wind am stärksten tobt. Und dort, wo sich immer wieder Tornados aus dem Wolkenwirbel des Hurricanes lösen - mit noch verheerenderen Wirkungen als der Hurricane selber. Zu allem Überfluß wird eine bis zu 12 m hohe Flutwelle erwartet. Tiefer gelegene Gebiete müssen mit schweren Überschwemmungen rechnen. Na klasse, unsere Apartmentanlage liegt direkt an der Oso-Bay, wir schätzen 2 m über dem Wasserspiegel. Nur gut, daß wir im ersten Stock wohnen. Aber hier kann wiederum das Dach wegfliegen. Langsam werden wir unruhig. Wenn der Sturm weiter auf uns zuhält, werden wir evakuieren.

Nein, unsere Fenster dürften wir nicht mit Sperrholz vernageln. Dafür dürfen wir wenigstens die Fenster mit Klebeband abkleben. Gibt ein wenig mehr Halt, wenn der Wind mit über 150 Stundenkilometern gegen die Scheiben drückt. Am Nachmittag hat Bret Windstärken von über 70 Meilen pro Stunde erreicht - Tendenz zunehmend. In den örtlichen Baumärkten gibt es zu dieser Zeit sowieso kein Sperrholz mehr. Im Wal-Mart noch zwei Taschenlampen gekauft, Batterien gibt es aber keine mehr. Mit Mühe finden wir in einem anderen Laden die beiden letzten Packungen. Auch die Supermarkt-Regale, wo sonst das Trinkwasser in allerlei Größen zu kaufen ist, gähnt uns nur noch leer an. Das alles trägt nicht zu unserer Beruhigung bei. Hastig eilen wir noch nach Port Aransas, um meine wichtigen Daten auf diversen Disketten zu retten. Jahrelange Arbeit steckt darin, und vorsorglich verpacken wir alles in einer Alu-Kiste und schleppen sie mit nach Hause. Allein die Vorstellung, daß diese jahrelange Arbeit fortgeweht und ins Meer hinausgespült werden könnte, jagt uns alle Schrecken in die Knochen.

Dabei liegt der Strand friedlich in der Abendsonne vor uns. Es weht kaum ein Lüftchen, einfach ein herrlicher Sommerabend. Nur die Nachrichten im Fernsehen erinnern an das nun wohl unausweichliche. Gegen 22 Uhr gibt der Bürgermeister von Corpus Christi für alle am Wasser gelegenen Bereiche der Stadt die Evakuierung bekannt. Von Mitternacht an wird Ausnahmezustand herrschen. Für Mustang Island, auf dem auch Port Aransas gelegen ist, wird die verbindliche Evakuierung ausgerufen. Morgen Mittag um 12 Uhr wird die Brücke zur Insel gesperrt werden, die Fähren werden den Verkehr einstellen. Strom und Wasser werden abgestellt. Auch wir werden uns auf den Weg machen...

Sonntag, 22. August 1999:Wir sind früh aufgestanden. Der erste Weg führt zum Fernseher. Hurricane Brett ist in der Nacht an Brownsville vorbeigezogen. Sturmausläufer haben dem südlichen Zipfel Texas aber bereits ordentlich zugesetzt. Die vorgelagerte Insel, South Padre Island, ist evakuiert, nur einige der mutigen Reporter vom Weather Channel harren aus, um nun pausenlos vom Hurricane zu berichten.

Nun beginnt ein Problem, an das wir in all den Tagen noch gar nicht gedacht haben: Was packt man in einer solchen Situation eigentlich ein? Es kann ja schließlich sein, daß wir unser Zuhause nicht mehr wiedersehen werden. Schreckensbilder von Hurricane Andrew aus Miami, in den letzten Tagen nicht selten im Fernsehen zu bestaunen, und von völlig zerstörten Siedlungen nach den Tornados im Frühjahr in Oklahoma, schießen durch unsere Köpfe. Was also mitnehmen? Das wertvollste, teuerste? Oder das nicht wiederbringbare? Das Packen gestaltet sich schwierig. Kurz ist die Zeit, klein ist das Auto. Nein, alles können wir nicht mitnehmen.

Also kommen erst einmal alle wichtigen Papier in den Koffer, dann eine Sammlung von Fotos, das Hochzeitskleid, der Hochzeitsanzug, ein paar Sachen zum Anziehen, denn nach dem Sturm geht das Leben ja weiter. Der Laptop kommt auch mit. Und der Familienschmuck natürlich. Alles andere bleibt zurück. Es ist ein unbeschreiblich merkwürdiges Gefühl, als wir die Türe unserer Wohnung abschließen.

Da wir so tief am Wasser wohnen, haben wir uns entschlossen, auch den Neon zumindest ein Stück ins Land mitzunehmen. So packen wir den Jeep voll und machen uns dann auf den Weg nach Norden. Am letzten Abend gaben sie im Fernsehen bekannt, daß die Autobahn nach San Antonio, Hauptevakuierungs- Route für Corpus Christi, auf beiden Seiten Richtung Norden geöffnet werden wird. Es ist 10 Uhr, Bret nähert sich mit 30 Meilen pro Stunde. Sehr wahrscheinlich wird er knapp vor den Toren von Corpus auf Land treffen.

Die ersten Meilen sausen wir mit 55 mph dahin, aber nach 10 Minuten steht alles. Nur noch Schritt für Schritt geht es quälend langsam voran. Inzwischen hat schüttender Regen eingesetzt. Die lokalen Radiosender spielen muntere Musik, alle halbe Stunde ein Wetterbericht - aber irgendwie kommt es uns seltsam vor. Nach 2 Stunden bemerken wir: immer die gleichen Berichte. Die Radiosender spielen nur noch Bänder, keine aktuellen Nachrichten. Nach langem Suchen finden wir einen Sender auf Mittelwelle aus San Antonio. Der hat sein ganzes Programm umgestellt und berichtet nur noch über Bret und die Verkehrslage in Corpus Christi. Nach 4 Stunden sind wir noch immer nicht aus Corpus heraus, wir bewegen uns langsamer als Bret in unserem Rücken. Und noch immer hat Bret Corpus anvisiert.

Im Radiosender aus San Antonio werden nun Anrufe von mit Handys bewaffneten Reisenden gesendet. "Highway 37 nach San Antonio steht auf ganzer Länge." - "Farm Road 624: Da war niemand, dann Route 16 nach Norden, ich war ganz alleine." Wir entschliessen uns, die Autobahn zu verlassen. Hier geht nichts mehr. Wir kurven nach Westen, dem Hurricane entgegen. Hier ist wirklich niemand mehr, stehen ja schon alle auf der Autobahn, die nun doch nicht in beiden Richtungen nach Norden geöffnet wurde. Nach einer halben Stunde erreichen wir Orange Grove. An einem Supermarkt stellen wir den Neon ab, von nun an fahren wir zusammen im Jeep weiter. Von hier an geht der Weg nach Westen, nach einer Weile dann nach Norden ohne Probleme weiter. Leere, gerade Straßen führen uns in Richtung San Antonio. Inzwischen ist es 15 Uhr, im Radio hören wir, daß alle Motels und Notunterkünfte in San Antonio bereits voll sind und die Automassen nach Austin weiterreisen.

Wir entschliessen uns, nach Westen abzudriften, und finden nordwestlich von San Antonio, im netten kleinen Ort Kerville, eine Unterkunft. Der Abend ist mild und ruhig. Das Mexikanische Restaurant gefüllt, und mit Lust und großem Hunger essen wir. Es ist eine seltsame Stille. Wir können uns kaum vorstellen, daß im selben Moment daheim die Hölle tobt. Doch die mutigen Reporter vom Weather Channel, denen wir nach dem Abendessen im Motel lauschen, lassen keinen Zweifel daran.

Bret ist glücklicherweise südlich von Corpus Christi auf Land getroffen, in dem am wenigsten besiedelten Küstenbereich von Texas. Dort sind schwere Sturmschäde zu vermelden, aber die große Flut blieb aus. Doch der Wind in Corpus ist auch nicht ohne, und wir sind froh, hier im ruhigen Hill Country zu sein. Es gibt Erlebnisse, die wir nicht unbedingt miterleben müssen. Auch die Geschichte Corpus Christis weist tödliche Hurricanes auf.

Montag, 23. August 1999:Noch toben Wind und Regen in Corpus. Wir machen einen Ausflug nach Fredericksburg, ehemalige deutsche Hochburg in Texas. Der Biergarten verwöhnt uns mit einem echten Paulaner Hefeweizen, die Sonne lacht warm vom Himmel. Im Radio verfolgen wir, wie Bret langsam nach Nordwesten zieht, eine Schneise der Verwüstung hinter sich lassend. Wir fahren östlich um San Antonio herum und machen uns auf den Rückweg. Immer wieder grübeln wir, ob das Dach unseres Apartment wohl gehalten hat. Nach Sonnenuntergang erreichen wir den Neon, er hat alles gut überstanden. Im Gewitterregen legen wir die letzte Stunde zurück und erreichen unser Heim, das keine großen Schäden aufweist. Erleichterung. Nur einige Wasserflecken an der Decke. In anderen Teilen von Corpus werden die Menschen noch ein, zwei Tage warten müssen, bis das Wasser von den Straßen abgelaufen ist, die Häuser wieder trockenen Fußes zu erreichen sind. Wir räumen unsere Sachen wieder in die Schränke. Zum Glück ist nochmal alles gut gegangen.


Am Dienstag ist auch Mustang Island wieder zu erreichen. Auch im Institut sind keine Schäden zu verzeichnen. Aufgeregt erzählen sich alle, Evakuierte und Dagebliebene, ihre Bret-Erlebnisse. Doch bald schon geht alles seinen gewohnten Gang. Hurricane gehören halt zum Leben am Golf. Immerhin hatten wir diesmal Glück. Und noch mehr Glück, denn in diesem Sommer blieb es bei einem Hurricane. Doch irgendwann kommt sicher wieder ein stürmischer Bote aus dem Golf herangezogen. Ob wir dann besser vorbereitet sind, ob uns das Packen dann leichter fällt?

Hier klicken, und es gibt noch eine Video-Sequenz von Bret auf seinem Zug über den Golf von Mexiko